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Michael Bienert


THEATERKRITIK

Das Pulverfass
von Dejan Dukovski. Regie: Dimiter Gotscheff. Premiere im Haus der Berliner Festspiele am 23. November 2008. Mit Samuel Finzi, Wolfram Koch u. a.


Tanz auf dem Pulverfass


von Michael Bienert

Wieder mal liegen Plastikplanen für das Publikum in den vorderen Stuhlreihen bereit, dort wo der Bundestagspräsident und die Justizministerin Platz genommen haben. Aber diesmal spritzt nicht Theaterblut, Schlamm oder Kartoffelsalat, sondern nur Wasser, wenn hundert grüne Äpfel von der zum Zuschauerraum abfallenden Bühne in den Proszeniumspool runterkollern. Die Äpfel sind ein Stück vom Paradies, eine alte verhärmte Frau (Margit Bendokat) fischt sie aus dem Wasser und füllt ihre Schürze damit. Wenn sie ins Publikum schaut, purzeln die Früchte zurück ins Wasser, immer wieder. In ihrem Alptraum will sie in einen Apfel beißen, aber noch ehe es dazu kommt, ist er verfault.

Alter ist Einsicht in die Vergeblichkeit, so könnte man diese symbolistische Rahmenhandlung deuten, in die Regisseur Dimiter Gotscheff und Bühnenbildner Anri Kulev die lebensprühenden Alltagsszenen von Dejan Dukovskis „Das Pulverfass“ kleiden. Das Pulverfass ist der Balkan, der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus explodierte. Kriegerische Gewalt, ethnische Säuberungen, Folterexzesse und Massenvergewaltigungen im ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien entsetzten seinerzeit den Rest Europas. Woher speiste sich diese tödliche Energie? Dukovskis 1996 in Skopje uraufgeführtes Stück kreist um diese Frage. Die Antworten der Ideologen lässt der Autor dabei beiseite: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Völkerschaft oder einer Religion spielt für die Handlungen seiner Figuren überhaupt keine Rolle.

Gleich die erste Szene zerstört die Illusion, Opfer und Täter ließen sich säuberlich auseinander sortieren. Ein Folteropfer (Wolfram Koch) humpelt auf die kahle Spielfläche, das Leid scheint den Mann mundtot gemacht zu haben, spricht indes umso anrührender aus seiner unbeholfenen Motorik. Ein anderer schlecht gekleideter Mann mit Anzeichen einer Gehbehinderung (Samuel Finzi) fragt ihn aus, langsam stellt sich heraus, dass er den Krüppel mit Hammer und Brechstange so zugerichtet hat. Es war die Quittung für eine weit zurückliegende Misshandlung durch den früher gefürchteten Dorfpolizisten. In der folgenden Szene wird ein Junge (Alexander Khuon) vor den Augen seines Vaters (Magne-Havard Brekke) ersäuft, weil er eine Beule in den Kotflügel eines Autofetischisten (Sebastian Blomberg) gefahren hat. Es folgen noch viele Situationen, in denen nur das Recht des Stärkeren gilt, sei es an einer Bushaltestelle oder im Gefängnis. Fast jede Szene könnte so auch hierzulande spielen, an den sogenannten Rändern der Gesellschaft. Dass sie eines schlimmen Tages wieder das Machtzentrum erobern, ist nicht auszuschließen.

Der Balkan dieser Aufführung gibt ein warnendes Beispiel. Er führt eine extrem phallozentristische Männergesellschaft vor, in der unverbrüchliche Kumpelei als höchster Wert beschworen wird, auch wenn man den besten Freund ständig hintergeht. Mit gespannter Wachsamkeit und frecher Schnauze laviert Birgit Minichmayr im roten Kleid durch dieses Haifischbecken, ohne echte Chance, dem Machismo der Kerle zu entgehen. Frauen sind wie Alkohol, Zigaretten und Autos wichtig für ihr Selbstgefühl, ansonsten ohne Wert.

Mit welch geschärfter Spiellust die Schauspieler die Sau rauslassen, allein schon das macht die Aufführung zu einem Fest. Dazu spielt das Balkanorchester des (in Stuttgart geborenen) Sandy Lopinic auf, über zwei Stunden fideln und jaulen und jazzen die neun Musiker im Rücken der Schauspieler, dass es eine Freude ist. So löst sich die ungemütliche Hartkantigkeit, die für Dimiter Gotscheffs illusionsfeindliche Regieführung sonst so charakteristisch ist, im Rausch und Taumel des Balkanblues auf. Ein furioser Auftakt für das Festival „Spielzeiteuropa“, das im Haus der Berliner Festspiele noch bis in den Januar überwiegend große internationale Koproduktionen zeigt.