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THEATERKRITIK

Onkel Wanja
von Anton Tschechow. Regie: Jürgen Gosch. Premiere am Deutschen Theater am 12. Januar 2008. Mit Ulrich Matthes, Constanze Becker u. a.


Berliner Landleben


von Michael Bienert

Die russische Provinz ist ein lehmbrauner, fleckiger Bühnenkasten ohne Türen und Fenster, ohne Blumen und Bäume. Kein freundlicher Ausblick mildert die Trostlosigkeit des Lebens auf dem Lande. Die Menschen, die dort ihr Dasein fristen müssen, geben sich keine Mühe mehr, den Anschein kultivierten Zusammenseins zu wahren. Sie sind schlecht angezogen, spucken auf den Fussboden und kauen saure Gurken, während sie von ihrem Frust erzählen. Die Männer grabschen nach jeder halbwegs ansehnlichen Frauensperson, die in ihre Reichweite kommt. Und alle bejammern sie tränenreich ihr langweiliges Leben.

So sieht eine Gesellschaft aus, die keine Perspektive mehr hat. Die Figuren in Jürgen Goschs „Onkel Wanja“-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin könnten ebensogut einer Milieustudie aus dem bundesdeutschen Prekariat entstammen, jener Gesellschaftsschicht also, der die Aussicht auf eigenhändig erarbeiteten Wohlstand und sozialen Aufstieg abhanden gekommen ist. Der Autor Tschechow selbst hat die persönlichen Dramen vor den Hintergrund einer ökologischen Katastrophe gestellt. In ihrem Kampf ums Dasein, so lässt er den Arzt Astrow dozieren, treiben die Menschen Raubbau an der Natur. Die Wälder sind schon fast ganz abgeholzt, das Klima kippt, viele Tierarten sind in der Gegend schon ausgestorben, bald wird sie auch für die Menschen unbewohnbar sein. Das ist keine Welt, in der man sich noch gemütlich am Samowar wärmen könnte.

Die Kargheit der Bühne kennt man mittlerweile aus vielen Inszenierungen von Jürgen Gosch und seinem Ausstatter Johannes Schütz. Doch von Mal zu Mal sieht man klarer: Ihr Minimalismus ist mehr als eine Markenzeichen, ist keine Masche, sondern eine höchst effektive Methode. Immer stehen die Schauspieler in einem fast leeren, zum Publikum geöffneten Kasten. Wenn sie gerade nichts zu spielen haben, warten sie an eine Bühnenwand gelehnt auf ihren nächsten Einsatz. Es gibt nichts, was von den Schauspielern ablenkt und nichts, was sie davon ablenken könnte, ihrer Figur Körper und Stimme zu geben.

Ulrich Matthes als Onkel Wanja in verschossenem blauem Anzug und schmutzigen Joggingschuhen ist ein wandelndes Burn-Out-Syndrom. Tief in ihm drinnen kochen der Lebenshunger und die Wut über sein unerfülltes Leben, die er seinem Schwager Alexander ins Gesicht schleudert. Der Professor (Christian Grashof) steht schon mit einem Bein im Grab, zwischen virtuos gespielten Gichtanfällen grabscht er lüstern an seiner jungen Frau Elena (Constanze Becker) herum. Sie tritt nicht als weltläufige, elegante Dame auf, sondern wirkt eher wie eine Studentin, die ihren greisen Professor geheiratet hat. Auch Astrow (Jens Harzer), in den sich Elena verliebt, ist kein Verführertyp, sondern macht mit seinem dünnen langen Schnurrbart und seiner merkwürdig hohen Stimme eine ziemlich lächerliche Figur. Dass die beiden sich zueinander hingezogen fühlen, kann man sich nur aus purer Langeweile und dem brennenden Verlangen nach Abwechslung erklären. Alle auf dem Gut sehnen sich nach der ganz großen Liebe, aber für zarte Empfindungen bietet der allgegenwärtige russische Lehmboden keine gute Grundlage.

Man mag sich wirklich nicht identifizieren mit all den übellaunigen, verschlissenen, hoffnungslosen Gestalten, kommt aber kaum umhin, zeitgenössische Gemütslagen wiedererkennen. Zu Herzen geht die alte Kinderfrau (Christine Schorn), die den Herrschaften Tee und Wodka serviert, obschon sie kaum noch laufen kann, doch das ist eine Figur aus einer vergangenen Zeit. Tapfer beschwört die junge, erfolglos in den Doktor verliebte Gutsherrin Sonja (Meike Droste) zuletzt den Traum von einem besseren Leben, während Onkel Wanja still dasitzt und ihm die Tränen in die Augen steigen: ein berührender Schluss für eine sonst völlig unsentimentale, spröde und kluge Tschechow-Inszenierung.