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AUSSTELLUNGEN
I JÜDISCHES MUSEUM BERLIN


Vertrieben, verwandelt, umworben


von Michael Bienert

Die Dichterin Nelly Sachs hat um vieles in ihrem Leben ein Geheimnis gemacht. Wer war der „unbekannte Bräutigam“, in den die Tochter eines Berliner Kaufmanns sich mit Siebzehn so unglücklich verliebte, dass sie beinahe daran zugrunde ging? Unter welchen Umständen kam der Mann, dem sie treu anhing, viele Jahre später in Nazideutschland ums Leben? Und wie sollen sich die Nachforschenden zu dem Wunsch von Nelly Sachs verhalten, ihr vor der Flucht nach Schweden entstandenes lyrisches Werk nicht einmal bibliografisch zu erwähnen? Sie wünschte hinter ihren im Exil entstandenen Gedichten, für die sie 1966 den Literaturnobelpreis erhielt, zu verschwinden: „Nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.“

Und nun eine große Wanderausstellung zu Leben und Werk, welch ein Widerspruch! Er löst sich auf, weil das Zeigen und Verbergen, das Eingelassenwerden und Draußenbleiben zum Ausstellungserlebnis wird. Familienerbstücke wie die Eheringe der Eltern oder ein Poesiealbum der Tochter sind aus der Schlüssellochperspektive zu sehen. Hinter einer geblümten Austellungswand mit kreisrunden Löchern erspäht man den vom Vater erfundenen Expander fürs Muskeltraining, Kasperlepuppen und das flimmernde Stummfilmbild einer Tänzerin. Wie durch einen Türspalt blicken wir in die behütete Welt einer jüdischen Bürgerstochter, abgeschottet gegen die literarische Moderne im Berlin der Zwanziger Jahre, auch in ihrer Lyrik: „Der Falter auf dem Kartoffelfeld / Wiegt schon den Schlaf der ganzen Welt - zur Ruh.“

In den Ausstellungspavillon mit schwarzen Schattenrissen, der dem anonymen Geliebten gewidmet ist, darf man hingehen - und findet drinnen lediglich Manuskripte. Auf dem Weg zur nächsten Lebensstation lädt eine Bank zum Niedersetzen ein: „Nur für Arier“. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1930 lebten Nelly Sachs und ihre Mutter vor allem von Mieteinnahmen, die in der Nazizeit wegbrachen, weil Mieter sich weigerten, an Juden zahlen. Nelly Sachs war 49 Jahre alt, als sie dem Terror mit ihrer Mutter 1940 nach Stockholm entfliehen konnte -  die Aufforderung, sich in einem „Arbeitslager“ zu melden, hatte sie schon erhalten.

Der Ortswechsel, die Nachrichten vom systematischen Judenmord und die Begegnung mit der schwedischen Moderne verwandelten ihre lyrische Sprache. Minutiös und einfühlsam beschreibt der Kurator der Ausstellung, der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos, diesen Transformationsprozeß im Begleitbuch, einer opulenten Bildbiografie. „In den Wohnungen des Todes“ und „Sternverdunklung“ hießen die beiden ersten Gedichtbände, die Nelly Sachs nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntmachten. Den Mittelpunkt der Ausstellung bildet ihre bescheidene „Kajüte“, den Schreib- und Schlafplatz ihrer Stockholmer Einzimmerwohnung. Filmaufnahmen zeigen die zerbrechliche alte Dame bei Preisverleihungen in der Bundesrepublik. Es entstanden neue Freundschaften, etwa zu Alfred Andersch oder Hans Magnus Enzensberger, doch die Kontakte nach Deutschland lösten auch posttraumatische Störungen aus. Den Wahn, neuerlich von Nazis verfolgt zu werden, versuchten die Ärzte mit Gesprächsttherapien und Elektroschocks in Schach zu halten. Paul Celan schickte ein Stück Platanenrinde als Talisman gegen die „Bosch- und Breughel-Höllen“. Gehört die Krankengeschichte so ausführlich an die Öffentlichkeit? Ja, denn sie korrigiert die öffentliche Inszenierung der Dichterin als einer Symbolfigur der raschen Versöhnung zwischen dem Tätervolk und seinen Opfern. In Wahrheit war eine Wiedergutmachung gar nicht möglich.

„Flucht und Verwandlung“, bis 27. Juni im Jüdischen Museum, danach in Stockholm, Zürich, Dortmund. Das gleichnamige Begleitbuch mit 450 Abbildungen, erschienen bei Suhrkamp, hat 320 Seiten und kostet 29,90 Euro.
Zu den Ausstellungsdaten
Zur Homepage des Jüdischen Museums



Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 7. April 2010

© Text und Fotos: Michael Bienert 



 


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