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THEATERKRITIK
Der Kirschgarten von Anton Tschechow. Regie: Falk Richter. Premiere an der Schaubühne am 29. Januar 2008. Mit Bruno Cathomas, Bibiana Beglau u. a.
Party mit Tschechow
von Michael Bienert
Man braucht heute keinen Samowar mehr, um Tschechow zu spielen. Die Krisen seiner Figuren benötigen kein realistisches Dekor. Es genügt anzudeuten, dass sie in einer absterbenden Gesellschaft gefangen sind, die es dem einzelnen schwer macht, an einen höheren Sinn zu glauben und sich ein Ziel zu geben. Diese ausweglose Konstellation macht Tschechow so zeitgenössisch, egal wie die Räume aussehen, in denen sich die Figuren bewegen.
Die russische Provinz kann sich buchstäblich in Nebel auflösen, wie in der grandiosen Iwanow-Inszenierung von Dimiter Gotscheff vor drei Jahren an der Volksbühne. An der Schaubühne fläzt sich nun Tschechows Kirschgarten-Personal auf einer flauschigen Landschaft aus weißem Kunstfell. Verloren steht der alte Diener Firs mit Tablett am Rande. Ein klappriges Relikt aus vergangener Zeit und einer naturalistischen Aufführungstradition: Sie triumphierte zum letzten Mal, als Peter Stein 1989 am selben Ort eine realistische Aufführung von hoher Künstlichkeit präsentierte.
Wie in weiße Watte gepolstert (von der Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann) erwartet die bankrotte Gutsbesitzerfamilie die Versteigerung ihres Landsitzes. Zum Zeitvertreib flüchtet sie sich in musikalische Jam-Sessions und führt studentische Theoriediskussionen. Später verwandelt sich das Landhaus in eine verspiegelte Riesendisko. Mit vielen Statisten steigt eine bombastische Party. Ein neuer Realismus ist das nicht, aber der Regisseur Falk Richter ist sichtlich bemüht, Tschechows Geschichte zeitgenössisch zu bemänteln.
Deshalb auch hat er auch das russische Original von einer auf Wirtschaftstexte spezialisierten Agentur neu übersetzen lassen. Der Bauernsohn Lopachin (Bruno Cathomas) ist ein ganz banaler Finanzjongleur, der das marode Gut und den mit Erinnerungen beladenene Kirschgarten abreißen lässt, um dort eine lukrative Wellnessoase zu errichten. Die ganze Handlung dreht sich ums liebe Geld. Damit kann außer Lopachin niemand umgehen. Das macht das Personal liebenswürdig, obwohl es sich um eher flache Charaktere handelt.
Bibiana Beglau als Andrejewna ist ein Luxusgeschöpf in extravaganten Kleidern, flirrt aber nicht. Eher eine Leerstelle a la Paris Hilton, gut versteckt unter einer blonden Perückenmähne. Mehr Zwischentöne gestattet sich ihr Bruder Leonid (Kay Bartolomäus Schulze), der schwadronierende Weltverbesserer. Dass es sich bei der zusammengewürfelten Gesellschaft um eine Familie handelt, ist kaum glaubhaft. Schwer nachvollziehbar, wieso die Tochter Anja (Eva Meckbach) sich an den pennerhaften Studenten Trofimow (Mark Waschke) hängt. Die Liebe Warjas (Elzemarieke de Vos) zu dem Parvenu Lopachin bleibt genauso eine Behauptung. Man müsste die tiefe Einsamkeit und erstickende Langeweile fühlen, die Tschechows Figuren zueinander treibt. Seine schneidende Schärfe und Härte sind am ehesten in Jaschas fühllosem Lebenshunger spürbar (Stefan Stern). Ganz außerhalb steht Steffi Kühnert als Iwanowna, die eine knallige Parodie auf eine mittelmäßige Performancekünstlerin abliefert.
Die Verpflanzung des Kirschgarten in ein hedonistisches Partymilieu und den Turbokapitalismus gelingen reibungslos, doch außer dem Wiedererkennungseffekt für die jetzt Zwanzig- bis Dreißgjährigen ist damit wenig gewonnen. Die Rechnung geht zu glatt auf. Der modisch möblierten Tschechow-Aufführung fehlt nicht nur der Samowar, sondern auch die Seele.