www.text-der-stadt.de



THEATERKRITIK

Idomeneus
von Roland Schimmelpfennig. Regie: Jürgen Gosch. Premiere am Deutschen Theater am 28. April 2009. Mit Margit bendokat, Meike Droste, Christian Grashof, Alexander Khuon, Niklas Kohrt, Peter Pagel, Katharina Schmalenberg, Barbara Schnitzler, Bernd Stempel, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch


Da warens nur noch Zehn


von Michael Bienert

Es gibt Theaterabende, die sind unwiederholbar. Dienstagabend im Deutschen Theater in Berlin ist so ein Tag. Kurz vor Premierenbeginn erleidet einer der elf Schauspieler einen Kreislaufkollaps. Es bleibt keine Zeit für eine Umbesetzung, der Intendant müsste das wartende Publikum eigentlich nachhause schicken. Wenige Minuten vor dem geplanten Aufführungsbeginn gibt der Regisseur grünes Licht. Zum Glück ist es ein lauer Frühlingsabend, das Publikum genießt die Verzögerung auf dem Vorplatz des Theaters, ohne zu wissen, welches Drama sich drinnen abspielt.

Dann öffnen sich die Saaltüren zu einer weiteren Irritation. Hat das Stück schon begonnen? Eine kahle weiße Wand verstellt den Blick ins Bühnenhaus, davor sitzen die zehn Schauspieler in Alltagskleidung auf einem hohen Absatz ganz nah vor der ersten Publikumsreihe. Sie reden irgendwas miteinander, scheinbar privat. Der Nestor Christian Grashof küsst die Kollegen. Ruhe kehrt ein, als Intendant Oliver Reese neben die Bühne tritt und kurz aufklärt, was vorgefallen ist. Starker Beifall für den Mut, die Premiere zu riskieren.

Bei manchen Fußballmannschaften ist es so, dass sie stärker spielen, wenn nur noch zehn Mann auf dem Platz sind. Das dezimierte Ensemble des Deutschen Theaters stürmt los, als ginge es um sein Leben. Die Zehn schneiden Grimassen, begeben sich in wüste Verrenkungen, klammern sich aneinander wie Schiffbrüchige in Todesnot. Das ist der Orkan, mit dem Roland Schimmelpfennigs Stück „Ideomeneus“ einsetzt. Eine Wucht.

Der Regisseur Jürgen Gosch und sein Bühnenbildner Johannes Schütz brauchen für so etwas keine Dekorationen, keine Licht- und Soundeffekte, nicht einmal viel Platz für die Schauspieler: Auf dem schmalen Proszeniumsstreifen können kaum zwei hintereinander stehen. Aber beengt wirkt hier niemand, ständig sind alle Zehn in Bewegung und nehmen ganz individuelle Haltungen zu der Geschichte ein, die sie erzählen.

Idomeneus, König von Kreta, kehrt siegreich aus dem Trojanischen Krieg nachhause zurück. Vor der Küste verschlingt ein Orkan seine Flotte, nur des Königs Schiff wird gerettet, weil er gelobt, das erste Wesen zu opfern, das ihm am Strand begegnet. Das ist sein Sohn Idamantes. Schimmelpfennigs Stück spielt verschiedene Varianten durch, wie Idomeneus mit dem tödlichen Konflikt umgeht. Bringt er den Sohn sofort um, versucht er sein Gelübde zu verdrängen, wie holt es ihn ein? Wird er von den eigenen Leuten umgebracht, gestürzt und ausgesetzt oder nimmt er sich das Leben? Wie es war, bleibt offen, aber eines ist allen Variationen gemeinsam: Sie gehen nicht gut aus. Idomeneus hat schon so viele Menschen geopfert, dass ein Happyend ausgeschlossen ist.

In der chorischen Aufführung ohne fest umrissene Figuren und eindeutige Handlung gibt es keinen König, auf den man voll Abscheu mit dem Finger zeigen könnte. Umso schärfer tritt das Prinzip hervor, das in jedem von uns drinsteckt: Das Überlebenwollen auf Kosten anderer. Wer kann schon ganz ehrlich von sich behaupten, er habe noch nie seine Haut gerettet, ohne jemand anderem zu schaden? Eine existenzialistische Verzweiflung grundiert diese Aufführung und gleichzeitig hebt sie den Fatalismus durch ihre Ästhetik auf. Da stehen zehn Individuen (Margit Bendokat, Meike Droste, Christian Grashof, Alexander Khuon, Peter Pagel, Katharina Schmalenberg, Barbara Schnitzler, Bernd Stempel, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch) an der Rampe, erzählen etwas gemeinsam, absolut gleichberechtigt, völlig ungekünstelt und total bei der Sache.

Ein Schauspieler fehlt, aber der Aufführung fehlt nichts. Standing ovations für den schwer kranken Regisseur Jürgen Gosch, den der Bühnenbildner Johannes Schütz im Rollstuhl vor das Publikum bugsiert. Nach der Premiere nimmt Gosch den Europäischen Theaterpreis des Internationalen Theaterinstituts entgegen, am Wochenende wird ihm mit Schütz gemeinsam der Berliner Theaterpreis verliehen. Und beim Theatertreffen ist Gosch mit zwei Inszenierungen vertreten. Die Theaterwelt überschüttet den schweigsamen Kranken derzeit mit Zuneigung. Was er ihr zurückschenkt, ist das intensive Gefühl von Wahrhaftigkeit auf der Bühne.