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THEATERKRITIK

We Are Blood von Fritz Kater. Premiere am Maxim Gorki Theater am 5. Mai 2010. Regie: Armin Petras. Mit Hilke Altefrohne, Regine Zimmermann, Peter Kurth, Julischka Eichel u. a.

Theater auf soziologischer Basis


von Michael Bienert

Yves war Chemikerin in einer ostdeutschen Kleinstadt, dann Redakteurin der Betriebszeitung, durfte Journalistik studieren und für eine DDR-Frauenzeitschrift schreiben, die nach der Wiedervereinigung unterging. Sie arbeitete für ein Anzeigenblatt, war Putzfrau, trug Zeitungen aus, zog an die Mosel, weil ihre Tochter ein krankes Kind bekam. Inzwischen geht Yves auf die Fünfzig zu, ist verwitwet, wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und kümmert sich als ungelernte Hilfspflegerin im Krankenhaus um Patienten mit schweren neurologischen Ausfällen. Derart gebrochene Biografien sind längst Alltag in Deutschland. Man könnte das beklagen, es achselzuckend zur Kenntnis nehmen oder anfangen zu staunen: Wie gelingt es den Leuten, sich durchzuwursteln? Was treibt sie an, obwohl sie kaum Aussicht haben, jemals ökonomisch festen Boden unter die Füße zu bekommen? Wie organisieren sie ihr Überleben in Zeiten des Umbruchs?

Solchen Fragen geht ein von der Bundesregierung seit 2007 geförderter Forschungsverbund nach. Sozialforscher und Künstler suchen nach dem „sozialen Kapital“ in Gegenden, deren wirtschaftliche Basis erodiert. Als ein ideales Feldforschungsobjekt bot sich Wittenberge an. Die 20.000-Seelen-Stadt an der Elbe hat seit dem Mauerfall ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Die Alltagsrecherche der Sozialwissenschaftler dort lieferte das Ausgangsmaterial für vier Stückaufträge an die Dramatiker Thomas Freyer, Juliane Kann, Fritz Kater und Philipp Löhle. Am Berliner Maxim-Gorki-Theater kam nun „We are Blood“ zur Uraufführung, in der Regie des Intendanten Armin Petras, der unter dem Pseudonym Fritz Kater schreibt.

Es beginnt mit einer kurzen Rückblende in die DDR-Vergangenheit. Damals ging es ums Überleben in der Planwirtschaft, aus dieser Zeit hat Yves ein bemerkenswertes Kapital in den Kapitalismus retten können: Die Fähigkeit, von sich abzusehen und für andere da zu sein. Hilke Altefrohne spielt die Ostfrau mit dem Herzen auf den rechten Fleck zurückhaltend und glaubwürdig. Sie findet als einzige einen Zugang zu einem krebskranken Jugendlichen (Regine Zimmermann), den es quält, dass er sterben soll, ohne je Sex gehabt zu haben.

Die smarte Kundenberaterin Lisa (Julischka Eichel) hat eigentlich keine Lust, sich um ihren schwer verunglückten Bruder Beni (Matti Krause) zu kümmern, tut es aber trotzdem. Dadurch verliert Lisa ihren Job und landet wieder in ihrer alten Heimat. Wie Yves übernimmt sie Verantwortung: enorm wichtig fürs Überleben einer Gruppe in unsicheren Zeiten. Ein resignierter Neurologe (Peter Kurth) und Richter (Christian Kuchenbuch), ein fanatischer Umweltschützer (Carlo Ljubek) und ein Geschäftsmann (Max Simonischek) vervollständigen das Gesellschaftstableau. Das gut aufgelegte Ensemble lässt die Figuren über die soziale Typologie hinauswachsen. Auch die  sparsam möblierte Bühne (Susanne Schuboth) und choreografische Einlagen betonen, dass es um spielerische Welterkundung geh, nicht um die Illustration soziologischer Befunde. Einmal wird ein lebendes Reitpferd auf die Bühne geführt, der überflüssigste Auftritt des dreieinhalbstündigen Abends, auf dem eine spürbar Anspannung lastet: Alle kämpfen darum, den Sprung aus den Ebenen der Soziologie in die Höhe der Theaterkunst zu schaffen. Es klappt, allerdings bei weitem so leichtfüßig wie in früheren Petras-Inszenierungen.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 12. Mai 2010
© Text und Foto: Michael Bienert

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Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
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ISBN 3-456-33869-1
10 Euro








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