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THEATERKRITIK

Berlin Alexanderplatz
von Alfred Döblin und Emil und die Detektive von Erich Kästner. Regie: Frank Castorf. Premiere an der Volksbühne am 1. und 2. Dezember 2007.


Emil trifft Franz Biberkopf!

von Michael Bienert

Amphibienfilme nennt die Kinobranche Produktionen, bei denen gleichzeitig eine Kinoversion und ein längerer TV-Mehrteiler gedreht werden. Der ökonomische Vorteil liegt auf der Hand, die künstlerischen Resultate jedoch sind meist weder Fisch noch Fleisch. An der Berliner Volksbühne macht Hausherr Frank Castorf jetzt Amphibientheater. Von seinem Chefausstatter Bert Neumann hat er sich eine Container-, Bretter- und Rummelbudenstadt auf die Drehbühne wuchten lassen, dabei handelt es sich um das geschickt zusammengefaltete Breitwandbühnenbild seiner Zürcher „Berlin Alexanderplatz“-Inszenierung aus dem Jahr 2001, die auch schon in der Asbestruine des Berliner Palasts der Republik gastierte. In dieser Bühnenstadt sind drei verschiedene Aufführungen zu sehen, der Reihe nach:

Nummer 1: Eine als Neuinszenierung vermarktete Wiederaufnahme von „Berlin Alexanderplatz“, wie vor sechs Jahren mit Max Hopp als gutmütigem Kraftprotz Franz Biberkopf in der Titelrolle, flankiert von einem schön aasigen Ganoven Reinhold (Marc Hosemann) und einem wilden Weibstier als Mieze (Bibiana Beglau). Spieldauer gut fünf Stunden. Hätte Castorf ein oder zwei Stunden herausgekürzt, wäre es eine tolle Aufführung.

Nummer 2: Kästners „Emil und Detektive“ als Theaterstück mit Kindern für Menschen ab 17 Jahre, also Erwachsene, verschnitten mit Zitaten und Szenen aus „Döblin Alexanderplatz“. Spieldauer fast 3 Stunden ohne Pause.

Nummer 3: Eine etwas kürzere Lightversion von Nummer 2, die für Kinder ab 9 Jahre geeignet sein soll.

Literaturhistorisch gesehen passen Döblins Montageroman und Kästners Kinderbuch gut zusammen, sie sind fast gleichzeitig im 20er-Jahre-Berlin entstanden und Klassiker der modernen Großstadtliteratur. Doch ihre Erzählhaltungen sind grundverschieden. Während Döblin durch seine Sprunghaftigkeit den erwachsenen Leser aufs äußerste fordert, achtet Kästner darauf, dass die lesenden Kinder
der spannenden Handlung folgen können. Während Döblin sich in eine moralische Grauzone begibt, in der sein Zuhälter Biberkopf vergeblich versucht, „anständig“ zu sein, sind bei Kästner Gut und Böse klar unterschieden.

Castorf verwischt die Unterschiede und verlegt beide Geschichten ins Prekariat von heute. So ist Kästners Ganove Grundeis (Milan Peschel) in der Bühnenversion kein kühler Verbrecher, sondern ein armes Würstchen mit Schlapphut. Wie Franz Biberkopf wird Grundeis von einem gewissen Reinhold (Georg Friedrich) in einen Raubzug des Kriminellen Pums (Volker Spengler) und seiner Bande hineingezogen. Für die Figur des Grundeis, für die Geschichte, die Bühnenwirksamkeit ist damit jedoch gar nichts gewonnen. Alles wird nur unschärfer, langatmiger, ermüdender. Wie tags zuvor in „Berlin Alexanderplatz“ fühlt man sich bei „Emil und die Detektive“ zu fortgeschrittener Stunde, als sitze man im Schneideraum bei einer Amphibienfilmproduktion fest: Ein Riesenhaufen Material ist auf Vorrat gedreht worden, ein Cutter hat alles ungekürzt aneinandergeklebt und dabei etliche Szenen durcheinandergebracht.

Schade drum, denn eine freche, witzige und temporeiche Adaption von „Emil und die Detektive“ wäre durchaus drin gewesen. Das liegt vor allem an den hinreissenden Darstellern. Ein Dutzend Kinder, zwischen 9 und 13 Jahre alt, spielt eine Straßenjugend, die von ihren Eltern wenig beachtet wird, vor Automatensalons und Schießbuden herumlungert und auch schon mal eine Maschinenpistole klaut, um den Dieb von Emils Geld zur Strecke zu bringen - so wie heutige Kinder das halt aus dem Fernsehen und von Computerspielen kennen. Die Kleinen sind anders als bei Kästner nicht die besseren Menschen, nur sind sie gemeinsam einen Tick klüger als die Erwachsenen. Die Jungs und Mädchen haben sichtlich Spass daran, zu fluchen und herumzuschreien wie die ausgewachsenen Castorfschauspieler. Als wahres Theaterwunderkind entpuppt sich Emil, gespielt von David Gabel. Der zarte Musterknabe kann Geige spielen, aber genauso beherzt in Mülltonnen treten und mit todernster Miene Theoriekauderwelsch aufsagen - ein Riesenlacher für die Erwachsenen.

Ein Kracher ist auch der vollbärtige Michael Schweighöfer als Emils Oma, hier eine dicke proletarische Tunte mit Herz. Das „Muttchen“ Frau Tischbein spielt Luise Berndt als sehr junge, berufstätige Alleinerzieherin mit typischen Überforderungssymptomen. Am Ende ist sie ihrem Emil richtig böse wegen seines Abenteuers: Sie hätte ihn gerne klein und niedlich, dabei ist er längst über die Großen hinausgewachsen. Und was lässt sich aus der Geschichte von den gestohlenen und zurückeroberten 140 Mark lernen? „Geld sollte man immer nur per Postanweisung schicken.“