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THEATERKRITIK

Die Möwe
von Anton Tschechow. Regie: Jürgen Gosch. Premiere des Ensembles des Deutschen Theaters in der Volksbühne am 20. Dezember 2008. Mit Corinna Harfouch, Kathleen Morgeneyer, Meike Droste, Jirka Zett, Alexander Khuon, Christian Grashof u. a.


Das Theater ist eine Möwe


von Michael Bienert

An einem See sitzt eine Möwe auf einem Stein. Die Möwe ist weiß, flatterhaft, nicht besonders klug, aber anmutig und vergänglich. So ein rund geschliffener Felsbrocken behält tausende von Jahren sein Form. Schleppt man ihn ins Theater, liegt er da wie ein sonderbarer Fremdling. Denn Theater ist flüchtig wie das Leben einer Möwe. Rasch sind die Kulissen hingestellt und abgebaut, in wenigen Stunden ist das Spektakel vorüber. Wenn es glückt, dann ist Theater so berückend schön wie der Flug einer Möwe, die über einem See ihre Kreise zieht.

In der Berliner Volksbühne, wo das Ensemble des Deutschen Theaters spielt, weil das eigene Haus immer noch Baustelle ist, hockt eine junge Schauspielerin im weißen Unterkleid auf einem Felsbrocken. Sie spielt eine moderne Theaterperformance an einem See. Dort wo der abendliche Wasserspiegel sein müsste, sitzt das Volksbühnenpublikum. Es schaut rund einem Dutzend Schauspielern frontal in die Gesichter, die in einer breiten Reihe die Performance auf dem Felsbrocken verfolgen. Bei dieser Aufführung in der Aufführung verkörpert die Profischauspielerin eine Laienschauspielerin. Ein Mädchen müht sich damit ab, Menschen, Löwen, Adler, Rebhühner, Gänse, Fische und Spinnen pantomimisch darzustellen, dann auch die Welt nach dem Erlöschen allen Lebens, sowie „die Seele Alexanders des Großen, Caesars, Shakespeares, Napoleons und des letzten Blutegels“. Links und rechts von der zarten Frau auf dem Stein wabert aus zwei blubbernden Schalen zarter Bühnennebel über den Boden.

Es ist höchst lächerlich, es ist allzu durchschaubar, es ist überarrangiert, doch das alles zählt gar nicht in diesen Theatersekunden: Wie da eine Person zappelt, sich windet und mit überschlagender Stimme in höchster Anspannung darum kämpft, dem Publikum ihre Sehnsucht mitzuteilen, nimmt einem den Atem. Das Theater breitet seine Schwingen aus und fliegt.

Kathleen Morgeneyer spielt Nina, die Möwe, als verdrucksten Teenager, naiv und gehemmt. Ihre Unbeholfenheit und ihr Idealismus wecken Beschützerinstinkte. In der rauhen Welt des Berufstheaters geht Nina rasch zugrunde, nach zwei Jahren Schauspielerei ist sie nur noch ein zerrüttetes Nervenbündel. Ein verheultes, zitterndes Kind unter eine Bettdecke gekauert, so findet der etwas blasse Jungdramatiker Kostja (Jirka Zett) seine Jugendliebe wieder. Danach zerreißt er seine Manuskripte und schießt sich hinter der Bühne eine Kugel durch den Kopf.

Besser so, als wie der Erfolgsschriftsteller Trigorin zu enden, die Liebhaber der Mutter Kostjas. Trigorin, der weichlichen Schönling und Schöngeist (Alexander Khuon) braucht alles Erlebte nur als Material für sein zwanghaftes Schreiben. Um seine innere Leere zu füllen, wird er zum Verführer Ninas, die er schnell wieder fallen lässt. Das gibt ihr - und Kostja - den Rest.

Tschechows Drama „Die Möwe“ wird von den Theatermachern geliebt, weil es ihnen reichlich Gelegenheit gibt, von ihrem Beruf, ihren Idealen und ihrem Scheitern zu erzählen. Theater spielt für fast alle Figuren im Stück eine wichtige Rolle, auch wenn sie nur Zuschauer sind wie der grobe Gutsverwalter Ilja (Bernd Stempel), der mit langweiligen Theateranekdoten nervt. Oder der alte, todkranke Sorin (Christian Grashof), der es beweint, dass er Jurist statt Dichter geworden ist. „Ohne Theater geht es nicht“, sagt Sorin. Affinität zur Kunst hat auch der müde und abgeklärte Arzt Jewgenij (Peter Pagel). An ihn klammern sich die andern Landgutbewohner in ihrer Verzweiflung, ohne dass er zu helfen weiß.

Figuren, die mit dem Theater gar nichts anfangen können wie die unglückliche Mascha (Meike Droste), der fette Lehrer Medwenko (Christoph Franken) und die Gutsverwalterin Polina (Simone von Zglinicki) bleiben Nebenfiguren. Wie viele andere Tschechow-Figuren versauern sie in der russischen Provinz. Im Kern aber geht es in der „Möwe“ um das Leben für die Kunst im allgemeinen und das Theater im besonderen, wie ein Spiegelkabinett zeigt das Drama dieses Motiv aus mehreren Perspektiven.

Die Inszenierung von Jürgen Gosch im Bühnenbild von Johannes Schütz übersetzt das in eine Spielanordnung, wie man sie ähnlich schon aus ihrem gefeierten „Onkel Wanja“ kennt: Eine hohe schwarze Wand verstellt das Bühnenhaus, auf einem Absatz sitzen die unbeteiligten Spieler fast die ganze Zeit dem Publikum zugewandt. Die Zuschauer blicken nicht in einen Illusionsraum hinein, sondern befinden sich mit dem Akteuren gemeinsam im Saal. Diese Anordnung erinnert an ein antikes Amphitheater. Wie auf einer Theaterprobe tragen die Schauspieler bequeme Alltagskostüme, die auf die Figuren hinweisen, aber keine Identität mit ihnen behaupten.

Tschechows Stück verführt allzu leicht dazu, es mit Anspielungen auf den aktuellen Kunst- und Theaterbetrieb anzureichern oder die Figuren selbstironisch zu überzeichnen. Das gilt besonders für die Arkadina, Kostjas Mutter, die eine gefeierte Schauspielerin auf Urlaub in der Provinz ist. Eine Traumrolle für Starschauspielerinnen, die darin mit dem Pfund ihrer Lebens- und Bühnenerfahrung wuchern können. Corinna Harfouch kennt selbstverständlich die vordergründigen Erwartungen an die Rolle und verweigert sich ihnen resolut. Sie spielt nicht die verwöhnte Diva, sondern eine durchschnittliche Karrierefrau. Ihre Arkadina will vor allem eins: jung bleiben, interessiert sich aber nicht wirklich für ihren halb erwachsenen Sohn. Ihre Gleichgültigkeit bricht auf, wenn sie sich von seinem Kunstidealismus angegriffen fühlt. „Ich spiele keine behinderten Stücke“, faucht sie ihn an. Sie explodiert, als sich der Geliebte Trigorin wegen Nina von Arkadina trennen will. Eine Furie in Frauengestalt krallt sich den jüngeren Mann, der diesem Angriff nichts entgegenzusetzen weiß. Man möchte nicht in seiner Haut stecken.

Alles nur Theater, doch obwohl die ruhig dahinfließende, von wenigen heftigen Eruptionen unterbrochene Inszenierung das keine Sekunde verleugnet, geht man nicht mit dem Gefühl hinaus, das Theater habe sich nur mal wieder selbst bespiegelt. Die Inszenierung erzählt von Sehnsüchten, Berufskrankheiten und Generationskonflikten, wie sie eben nicht nur im Theaterleben vorkommen. Gerade weil das Theater von Jürgen Gosch auf alle unwesentliche Spielerei verzichtet, strahlen das elementare Glücksverlangen, der Schmerz und die Verzweiflung umso deutlicher hindurch. Das artifizielle Profitheater treibt er genau auf den Punkt zu, der die amateurhaften Verrenkungen Ninas auf ihrem Möwenfelsen so berührend macht. Und das ist große Kunst.