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THEATERKRITIK

Der einsame Weg
von Arthur Schnitzler. Regie: Christian Petzold. Premiere am Deutschen Theater am 14. März 2009. Mit Jörg Gudzuhn, Ulrich Matthes, Ernst Stötzner, Nina Hoss, Barbara Schnitzler u. a.


Die Übermacht der Alten


von Michael Bienert

In einer alternden Gesellschaft zu leben, ist für die Jüngeren kein Zuckerschlecken. Eine wachsende Zahl von Alten fordert Unterstützung und Pflege. Auch die Macht der mittleren Jahrgänge ist schwer auszuhebeln, wenn diese zahlenmäßig stark überlegen sind und mit einer hohen Lebenserwartung rechnen. Andererseits: Je rarer die Jungen werden, desto begehrter werden sie auch. Sie sollen Stütze, Schmuck und Hoffungsträger für die Älteren sein. Oder eine Art Spiegel, in dem diese ihre verlorene Jugendlichkeit wiederfinden wollen. Wer mag es den Jungen verdenken, wenn sie keine Lust haben, sich derart von der Majorität der älteren Jahrgänge instrumentalisieren zu lassen?

„Ich bin nicht dazu geschaffen, Menschen beizustehen in trüben Tagen. So ist es nun einmal. In mir regt sich Feindschaft gegen Menschen, die auf mein Mitleid angewiesen sind“, wehrt sich die schöne Johanna in Schnitzlers Schauspiel „Der einsame Weg“. Tänzerin wollte Johanna werden, stattdessen muss sie die Mutter bis zum Tode pflegen. Sterbenskrank ist der Dichter Sala, in den sie sich verliebt hat. Johanna sieht sich von lauter Leuten eingekreist, die gedanklich in der Vergangenheit leben. Der Bruder ist aus dem Elternhaus zum Militär geflohen, auch von ihm fühlt sich die Schwester allein gelassen. Wie soll sie sich befreien?

Johanna trägt Schwarz. Am Deutschen Theater leiht ihr Nina Hoss die hohe, schlanke, blonde Gestalt. Wie ein sinnlicher Engel, mit ganz zarten Schritten kreist sie um Sala, verschlingt ihn mit großen Augen, ohne ihn anzurühren. Nina Hoss gelingt das Kunststück, ihre zurückhaltende Figur gleichzeitig stark und fragil, rätselvoll und glasklar erscheinen zu lassen. Johanna könnte auch als Zerrissene, innerlich Gärende gespielt werden, aber darüber ist die Figur bei Nina Hoss schon hinaus. Ihre Entschlüsse reifen in der Stille. Sie nimmt sich Sala und danach geht sie ins Wasser. Gradlinig, ganz ruhig. Weder der Sex noch der Tod hinterlassen Kampfspuren. Johannas Selbstmord: ein Hinsinken aus anmutiger Bewegung. Der nüchtern-melancholische Hausarzt (Frank Seppeler) seziert die schöne Leich mit den Augen, dabei spricht er ein Textstück aus „Schnitzlers Traumnovelle“: „Völlig nichtiges, leeres, totes Antlitz. Könnte ebensogut einer Achtzehnjährigen wie einer Achtunddreißigjährigen gehören.“

Die Illusionslosigkeit teilt Johanna mit dem älteren Sala, gespielt von Ulrich Matthes. Ein Zyniker, der alles und alle durchschaut. Sala weiß um seine Unfähigkeit zu Liebe und Freundschaft. Allein für archäologische Ausgrabungen begeistert er sich noch. Der schmale, hagere Mann mit den Lederhandschuhen sonnt sich darin, ein harter Brocken zu sein. Arrogant schaut er von seinem intellektuellen Eisgipfel auf die Umgebung herab.

Er weiß sofort, dass die Bemühungen seines verlotterten Künstlerfreundes Julian um dessen unehelichen Sohn Felix, den Bruder Johannas, vergeblich sind. Julian (Ernst Stötzner) ist nie dauerhafte Bindungen eingegangen, nun sucht er auf seine alten Tage eine Bezugsperson. Die egoistische Dreistigkeit Julians macht diesen Handlungsstrang zur prallen Tragikomödie. Sie bringt etwas Lebhaftigkeit in den weißen Bühnensarg von Henrik Ahr, einen leeren Kasten mit Ausblick auf eine Videoprojektion des Berliner Urbankrankenhauses, dessen Lichter sich im Wasser des Landwehrkanals spiegeln. Der Bildaufbau ähnelt nicht zufällig dem Gemälde "Die Toteninsel" von Böcklin.

Julians Selbstgerechtigkeit provoziert heftige Abwehrreaktionen, beim Publikum und den Mitspielern. Er holt sich eine schroffe Abfuhr bei Felix (Alexander Khuon), dem die Treue seines langweiligen Ziehvaters (Jörg Gudzuhn) mehr gilt als die biologische Abstammung von einem Filou. Und Julian treibt seine Geliebte Irene (Almut Zilcher) zu Tränen, die seinetwegen vor über 20 Jahren abgetrieben hat. Bitter beklagt sie ihre Kinderlosigkeit. Große Klappe, großes Herz: Zilchers Irene erfüllt das kultivierten Totenhaus mit rauen Misstönen, sympathisch in ihrer zupackenden Art, dabei ist sie genauso egoistisch wie alle anderen. Am Ende schnappt sie sich Julians Sohn und freut sich dran, dass die Leute auf der Straße denken werden, sie sei die Mama.

Inszeniert hat Christian Petzold, einer der wichtigsten deutschen Kinoregisseure, der mit Nina Hoss bereits vier Filme („Yella“) gedreht hat. Sein Debut am Deutschen Theater gibt er mit einem Drama, dessen zwischen Leben, Erinnerung und Tod schlingernde Gestalten Petzolds Kinofiguren („Gespenster“) wesensverwandt sind. Er muss Schnitzlers Drama nur ein wenig vom Zeitkolorit reinigen, damit es ganz gegenwärtig ausschaut. Er vertraut sich der Geschichte, dem Stück und den Schauspielern an. So viel Demut ist sympathisch, wer jedoch erwartet hatte, der Quereinsteiger werde ungewöhnliche Ideen mitbringen, sieht sich getäuscht. Die unterkühlte Ästhetik der Aufführung und das saubere Handwerk tragen fast schon altmeisterliche Züge. Man fühlt sich an das Deutsche Theater der Langhoff-Ära erinnert, auch am Berliner Ensemble Claus Peymanns würde dieser „Einsame Weg“ in den Spielplan passen. Die Großvaterfiguren des deutschsprachigen Theaters scheinen Regie zu führen, passend zur Handlung des Stücks, in dem die Alten die Jungen fest im Griff haben.