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THEATERKRITIK

Über Leben von Judith Herzberg. Premiere am Deutschen Theater am 8. April 2011. Regie: Stephan Kimmig. Mit Christian Grashof, Almut Zilcher, Christine Schorn, Susanne Wolff, Maren Eggert u. a.

Leben nach der Katastrophe

Von Michael Bienert

Sie hatten Glück im größten anzunehmenden Unglück. Ada und Simon überlebten Auschwitz, sogar ihre Tochter Lea fanden sie wieder. Drei Jahre wohnte Lea bei einer nichtjüdischen „Kriegsmutter” unter falschem Namen. Als die Eltern sie weggaben, war sie vier, als sie aus der inzwischen vertrauten Ersatzfamilie gerissen wurde, war sie sieben Jahre alt.

Im Jahr 1972 ist Lea einunddreißig und heiratet zum dritten Mal. Damit beginnt die niederländisch-jüdische Familiensaga aus drei Stücken von Judith Herzberg, die der Regisseur Stephan Kimmig unter dem Titel „Über Leben” erstmals zu einem einzigen, viereinhalb Stunden langen Abend zusammengefügt hat. „Leas Hochzeit” und „Heftgarn”, die ersten beiden Stücke, inszenierte Kimmig vor fünfzehn Jahren schon mal in Stuttgart. In Berlin wird die Familiengeschichte bis ins Jahr 1998 fortgesponnen, drei Generationen begegnen sich auf der Bühne: die Holocaust-Überlebenden, deren Kinder und Kindeskinder. Wie die Erfahrung des Völkermordes in ihnen weiterlebt, weiß die niederländische Lyrikerin und Dramatikerin Judith Herzberg aus eigener Erfahrung. Auch sie wurde als Kind durch nichtjüdische Pflegeeltern vor der Deportation gerettet.

An Leas Hochzeitstag kommt alles hoch, was die Überlebenden lieber mit einen Mantel des Schweigens bedecken. Die Trennung erst von den Eltern, dann von den Pflegeeltern: das erzeugt bei Lea (Susanne Wolff) Bindungsangst für den Rest des Lebens. Die Mutter Ada will eine Therapie anfangen, um sich von Wahnzuständen zu befreien. Vater Simon droht mit Trennung, weil das seine Beschützerrolle infrage stellt. Auf der Hochzeitsfeier lernt er Dory (Maren Eggert) kennen; sie könnte seine Tochter sein und war schon mit seinem dritten Schwiegersohn Nico (Daniel Hoevels) verheiratet. Simon zeugt Isaac mit ihr, den Jüngsten der Familie.

„Kinder, die geboren werden wollen, die kann man nicht aufhalten”, sagt Ada (Almut Zilcher) zum Seitensprung ihres Alten. Was sich in anderen Familien zu einer Ehekatastrophe auswachsen würde, gerät hier zum Triumph: Auch dieses Kind ist ein später Sieg über die Ausrottungspläne der Nazis. Dory wiederum sucht in ihrem Kind das Antlitz ihres ermordeten Vaters, den sie nie kennenlernte. Offen gesprochen wird über die geheimen Motivationen kaum. Die Spätgeborenen spüren Schatten, gegen die sie vergeblich aufbegehren.

Alle Personen versuchen trotz ihrer Beschädigungen miteinander auszukommen, was aber immer wieder neue Verletzungen produziert. Bösartig ist niemand in dieser Mischpoche, selbst ein windiger Typ wie der Schürzenjäger und Immobilienhai Hans (Jörg Pose) wird zum Sympathieträger. Vor allem für die altersweisen Schauspieler ist es ein großer Abend, für Christian Grashof als Simon, dessen Lebenswille mit der Gebrechlichkeit wächst, und für Christine Schorn als herzig-naive „Kriegsmutter”, die den Verlust des ihr anvertrauten Kindes niemals verwunden hat. Auch das Spießerehepaar Zwart und Duifje (Markwart Müller-Elmau und Simone von Zglinicki) oder der Klempner Kluiters (Michael Gerber) gehören irgendwie zur jüdischen Familie dazu: Sie wurden zwar nie direkt verfolgt, doch die Geschichte ihrer jüdischen Nachbarn lässt sie nicht los.

Um den Rückfall in einen gemütlichen Bühnenrealismus zu umgehen, verbannen Stephan Kimmig und seine Bühnenbildnerin Katja Haß die Figuren in eine ungemütliche Sperrholzdekoration. Langweilig wird es trotzdem nicht, da die Schauspieler es verstehen, mit wenigen Gesten und Sätzen lebendige Individuen hinzutupfen. Die Langzeitentwicklung der Charaktere macht so neugierig, dass man ihr auch noch in der vierten Stunde mit wachsender Wachheit folgt. Dabei strahlen Drama und Aufführung eine unverkitschte Warmherzigkeit aus, die im Gegenwartstheater sehr selten geworden ist.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 11. April 2011

© Text und Foto: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro








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