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DAS ARCHIV UNTERDRÜCKTER LITERATUR

Mundtot, aber nicht für immer

von Michael Bienert

Mit 20 Jahren eingesperrt, fünf Jahre später tot: Die Dichterin Edeltraut Eckert hatte keine Chance, viele Spuren in der Literaturgeschichte zu hinterlassen. Am 10. Mai 1950 wurde sie in ihrer Wohnung bei Potsdam verhaftet und danach brutal verhört. Mit drei Freunden hatte die Pädagogikstudentin und Rilke-Verehrerin eine „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ gegründet, ein Militärtribunal verurteilte sie deswegen zu 25 Jahren Haft. Edeltraut Eckert starb 1955 an den Folgen eines Arbeitsunfalls in der Frauenstrafanstalt Hoheneck im Erzgebirge.

In dieser Zeit festigte Bertolt Brecht in Ostberlin seinen Weltruhm und ordnete sein Archiv: 200.000 Blatt hinterließ er der Nachwelt. Von Edeltraut Eckert blieben ein paar Briefe an die Familie. Einen pro Monat durfte sie schreiben und nichts über ihre elenden Haftbedingungen berichten. Nach ihrem Tod schickte die Anstaltleitung den Eltern ein Heft, auf der ersten Seite steht: „Die Strafgefangene Eckert, Edeltraud, V. Kolonne, erhält die Genehmigung, dieses Buch zum Zwecke ihrer Dichtung und Komponierung bei sich zu führen. Es enthält 136 Seiten.“
Wenige Gedichte hat die junge Frau darin hinterlassen, eines beginnt: „Ich weiß nicht viel von mir zu sagen / Nur dass ich lebe, dass ich bin / Und alle Wünsche, die mich tragen, / Sind im Verzicht ein Neubeginn.“ Das letzte Gedicht, datiert auf den 11. März 1954, schließt: „Kann Dir keine Lieder schenken, / Schenken keinen Blütenkranz, / Dir zu eigen ist mein Denken, / Dir zu eigen bin ich ganz.“

Eine Literaturgeschichtsschreibung, die vor allem an Sprachinnovationen interessiert ist, kann mit solchen Versen wenig anfangen. Sie sind epigonal, aber sind sie deshalb wertlos? Es ist schon ein Wunder, dass die junge Frau in ihrer aussichtslosen Situation überhaupt so etwas aufs Papier bringen konnte.

Seit zehn Jahren gibt es einen Ort für solches Strandgut der Literaturgeschichte. Das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ umfasst inzwischen rund 150 Vor- und Nachlässe von Autoren, die in Gefängnissen schmorten oder sonst keine Chance hatten zu publizieren. Bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin können diese Zeugnisse eingesehen werden. Ein großer Teil stammt aus dem Nachlass des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit: Mielkes Mitarbeiter beschlagnahmten bei der Verhaftungen missliebiger Autoren ihre Manuskripte, um sie als Beweismaterial zu verwenden.
Der Schriftsteller und langjährige Lektor Joachim Walther wurde darauf aufmerksam, als er nach der Wende im Auftrag der Gauck-Behörde die Stasiverstrickungen seiner Kollegen in den Akten erforschte. An seinem 1000-seitigen Bericht über den „Sicherungsbereich Literatur“ kommt seither niemand vorbei, der sich ernstlich mit DDR-Literatur beschäftigt. Zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ines Geipel gründete er das Archiv der unterdrückten Stimmen. Einer größeren Öffentlichkeit ist die ehemalige Leichtathletin durch ihren Kampf für eine Aufarbeitung der Dopingpraktiken in der DDR bekannt geworden. Nach dem politisch erzwungenen Abbruch ihrer Sportkarriere studierte Ines Geipel Germanistik in Jena und interessierte sich besonders für die Formen weiblichen Schreibens unter der Diktatur, heute ist sie Professorin an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“.

„Mit den spröden Gedichten von Inge Müller fing es an, mit der Frage, wie sie das gemacht hatte, das Atemknappe, die seltsame Spannung in ihren Versen“, so beginnt Geipels 2009 erschienenes Buch „Zensiert, verschwiegen, vergessen“, eine alternative Geschichte der DDR-Literatur am Beispiel von 12 Autorinnen. Mehrere nahmen sich das Leben, so wie die Lyrikerin Inge Müller, die Ines Geipel als Herausgeberin und Biografin aus dem Schatten ihres Ehemannes, des Dramatikers Heiner Müller, befreit hat. Susanne Kerckhoff, Ursula Adam, Eveline Kuffel, Heidemarie Härtl – sie gehören noch lange nicht zum revidierten Kanon der DDR-Literatur. Der SED-Staat gab ihnen keine Chance, noch immer übt er Macht über die Erinnerung aus. Diese Macht wollen Ines Geipel und Joachim Walther brechen.

Seit 2005 geben sie bei der Büchergilde „Die verschwiegene Bibliothek“ mit Texten der Autoren aus dem Archiv heraus. Zehn sorgfältig edierte und einladend ausgestattete Bücher hat die Reihe bisher. Unter den vorgestellten Autoren sind Schwergewichte wie Thomas Körner, der über 30 Jahren an einem Roman mit dem Titel „Das Land aller Übel“ arbeitete – von den 7000 Blatt des Manuskripts konnte nur ein kleiner Ausschnitt publiziert werden. Ebenso von den 4000 Seiten umfassenden Tagebüchern des Übersetzers Henryk Bereska aus Ostberlin. Die aufmüpfige Prenzlauer-Berg-Szene der Achtziger ist in der Edition mit Prosa und Gedichten von Gabriele Stötzer vertreten, einer Autorin, die nicht nur den Stasioffizieren die Stirn bot, sondern sich auch bei deren Handlangern im literarischen Untergrund unbeliebt machte.

„Die verschwiegene Bibliothek“ sollte eigentlich 20 Titel umfassen, aber die Neugier der Käufer hielt sich bisher in Grenzen, leider. „Nach dem zehnten Band hat uns der Verleger vor die Tür gesetzt“, erzählt Joachim Walther grimmig. Umso besser, dass die beiden Archivgründer nun mit dem renommierten Antiquaria-Preis für Buchkultur ausgezeichnet werden. Absicht oder nicht, es ist auch ein Wink der Jury an die Büchergilde, in ihrem Einsatz für besondere Bücher nicht nachzulassen: Dafür ist das Unternehmen 1996 immerhin selbst mit dem Antiquaria-Preis ausgezeichnet worden.

Wenigstens einen „Analyseband“ will Joachim Walther der Edition noch hinzufügen, um die veröffentlichten Texte einzuordnen und das Gesamtarchiv bekannter zu machen. Er hofft dabei auf finanzielle Unterstützung vom Staatsminister für Kultur. Noch immer begegnet Walther und Geipel nämlich das Vorurteil, ihr Archiv sammle nur die Spreu der DDR-Literaturgeschichte ein. Wenn es aber so wäre: Warum haben Stasi und Zensur dann alles daran gesetzt, die literarische Produktion bestimmter Autoren zu verhindern?

Ines Geipel: Zensiert, Verschwiegen, Vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989. Artemis und Winkler, Düsseldorf 2009, 288 Seiten, 24,90.
Ines Geipel und Joachim Walther (Hg.): Die verschwiegene Bibliothek. Zehn Bände mit Texten von Henryk Bereska, Edeltraud Eckert, Heidemarie Härtl, Sylivia Kabus, Thomas Körner, Ralf-Günter Krolkiewicz, Radjo Monk, Salli Sallmann, Gabriele Stötzer, Günter Ullmann, erschienen bei der Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. / Wien / Zürich, 2005-2010, 14,90 bis 16,90 € pro Band.
Informationen und Hörproben auf der Website der Büchergilde >>>
Zum Archiv unterdrückter Literatur bei der Bundesstiftung Aufarbeitung >>>.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 24. Januar 2011
© Text: Michael Bienert













 Michael Bienert

 Stille Winkel an der
 Berliner Mauer

 Ellert & Richter Verlag
 Hamburg 2009
 ISBN:
 978-3-8319-0365-8

 144 Seiten mit
 23 Abbildungen
 und 2 Karten
 Hardcover mit
 Schutzumschlag
 Preis: 12.95 Euro
 


 
 
 

 










 

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