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THEATERKRITIK

John Gabriel Borkmann
von Henrik Ibsen. Regie: Thomas Ostermeier. Premiere am 10. Dezember 2008 im Theatre Nationaux des Bretagne und am 14. Januar 2009 in der Schaubühne. Mit Josef Bierbichler, Kirsten Dene, Angela Winkler u. a.


Kältetod eines Kapitalisten


von Michael Bienert

Irgendwann wird es wieder aufwärts gehen. Und dann, glaubt der seines kompletten Vermögens beraubte Bankmanager, schlägt die Stunde der Genugtuung. „Wenn ich nicht ganz sicher wäre, dass sie kommt, hätte ich mich längst vor einen Zug geworfen“, sagt John Gabriel Borkmann in Ibsens Drama, das 1896 in London, im Musterländle des modernen Hochkapitalismus, uraufgeführt wurde. Hat sich seither viel verändert? Weil er keine Zukunft für sein Firmenimperium mehr sah, nahm sich der Patriarch Adolf Merckle vor ein paar Tagen das Leben. Das Musterbild eines verantwortungsvollen Unternehmers hatte sich insgeheim verzockt. In der Nähe seiner Villa in Blaubeuren legte sich Merckle auf die Gleise.

„Ich stand knapp vor dem Ziel. Nur acht Tage Frist, um alles zu ordnen, und alle Depositen wären wieder eingelöst worden. Alle Wertpapiere, die ich mutig genutzt hatte, die hätten wieder auf dem alten Platz gelegen. Um ein Haar wären die riesigen Aktiengesellschaften damals zustande gekommen. Kein Mensch hätte einen Pfennig verloren“, so redet sich Borkmann seinen Bankrott schön. Kaum glaubhaft, dass alles hätte gut ausgehen können, wenn nicht ein eifersüchtiger Mitarbeiter seine krummen Geschäfte ausgeplaudert hätte. Bloß wegen einer Eifersuchtsgeschichte sollen die Einleger, die Borkmanns Bank ihre Ersparnisse anvertraut hatten, alles verloren haben. Der Hauptgeschädigte aber sei er selbst, das glaubt der Bankier dreizehn Jahre nach dem Crash noch immer ganz fest.

Fünf davon hat Borkmann im Zuchthaus gesessen, seit acht Jahren wartet er in einem fast leeren Zimmer seiner Villa darauf, dass er wieder in die Welt der Manager zurückgerufen wird. An der Berliner Schaubühne ähnelt das Haus des Kapitalisten (von Jan Pappelbaum gebaut) einer gigantischen Kühltruhe. Über spiegelglatte Böden wabert Eisnebel. Leere weiße Wände. Vor breiten Glasfronten graue Wolken. Im Erdgeschoss sitzt Borkmanns Frau in schwarzer Witwentracht grollend auf einer altmodischen Sofagarnitur aus der Wirtschaftswunderzeit. Oben wandert Borkmann um einen großen Büroschreibtisch mit säuberlich geordneten Papieren. Seit acht Jahren haben die beiden nicht miteinander gesprochen. Alle Gefühle in diesem Haus sind tiefgefroren. Der Eispanzer auf den Seelen ist so dick, dass die Eheleute ihn überhaupt nicht mehr abschütteln können.

Das macht es beim Zuschauen nicht leicht, Mitgefühl für die traurigen Figuren aufzubringen, obwohl sie von großen Schauspielern verkörpert werden, die einem eigentlich immer das Herz aufgehen lassen. Kirsten Dene als Gunhild Borkmann spielt die beleidigte Leberwurst, die ihrem Mann und überhaupt dem Leben ihren sozialen Abstieg nicht verzeihen kann. Mit den Jahren ist sie wunderlich geworden, die Realität nimmt sie nicht mehr wahr. Ihr Sohn Erhard (Sebastian Schwarz) soll die Ehre der Familie retten, hat aber natürlich gar keine Lust dazu. Mit seiner schwarzen Hornbrille schaut Erhard ein wenig aus wie der Komiker Heinz Ehrhardt in jungen Jahren - eine hübsche Pointe am Rande.

Sepp Bierbichler leiht Borkmann seine kräftige Statur und die sympathisch grantelnde Diktion, doch warm wird man mit ihm ebenfalls nicht: Er bleibt ein unverbesserlicher Dickschädel, gefangen im Glauben an seine Mission, wie Napoleon riesige Macht anzustreben, um damit die Menschheit zu beglücken. So sehr ihn sein Sturz verletzt hat, so unverletzbar hat er sich gemacht. In Chefpose entlässt er seine letzten Freund Foldal (Felix Römer), als dieser den Glauben an Borkmanns Wiederaufstieg verliert. Selbst als seine Jugendliebe Ella, die todkranke Schwester Gunhilds, ihn besucht, taut ihn das nicht auf. Borkmann erzählt ihr wohl, was sie für ihn bedeutet hat, aber da ist kein Aufbrechen früherer Leidenschaft zu spüren, keine wirkliche Trauer um das verpasste Leben, nur Selbstgerechtigkeit und Altersstarrsinn.

Ella tritt von außen in diesen Eisschrank der Gefühle hinein, mit ihrer ganzen Zartheit, Offenheit und Verletzlichkeit stemmt sich die Schauspielerin Angela Winkler gegen die Verhärtung der anderen. Vergeblich, auch sie wird von der schauspielerische Kältestarre erfasst, hat aber noch genug Luft, ihre Ella zweideutiger und damit interessanter zu machen: Das arme alte Tantchen geht so gradlinig auf sein Ziel zu, Erhard als Adoptivsohn und Sterbebegleiter zu sich zu holen, dass man den Egoismus der anderen Familienmitglieder darin wiedererkennt.

Die Inszenierung von Thomas Ostermeier stellt die Psychopathologie einer kaputten Familie aus dem Bankermilieu mitleidlos aus. Wirklich lebensnah werden die Figuren dabei nicht, die ganze Geschichte wirkt extrem konstruiert, allzu ausgedacht - so als habe nicht der feinfühlige Ibsen das Drama geschrieben, sondern ein Jungdramatiker schnell ein aktuelles Stück zur Finanzkrise gezimmert. Erstaunlich, weil gerade Ostermeier an der Schaubühne in den letzten Jahren zwangslos heutige Ibsen-Inszenierungen wie „Nora“ und „Hedda Gabler“ gelungen sind. An diesem Abend wird man das Gefühl nicht los, dass die prominenten Schaubühnengäste Bierbichler, Dene und Winkler mehr nebeneinander her als zusammenspielen. Das mag so gewollt sein, aber man wünscht sich halt mehr, wenn der erdverbundene Bierbichler und die zarte Angela Winkler als altes Liebespaar auf der Bühne zusammentreffen. Es stimmt auch etwas am Rhythmus der Aufführung nicht, es fehlen ganz wichtige Sekunden, in denen die Figuren um Worte ringen müssten oder einfach nur schweigen. Schon nach weniger als zwei Theaterstunden darf Borkmann einen sanften, schnellen Kältetod sterben. Heißer Applaus klingt anders.